furthermore...     Interkulturelles Lernen
     
 
 5.3 Der Umgang mit kulturellen und nationalen Stereotypen im Textauszug von Zé do Rock mittels Figurenbefragung
 Um eine fremde Kultur in ihrer Andersheit zu verstehen, ist es notwendig, die Innenperspektive einzunehmen, um das Selbstverständnis der Angehörigen der fremden Kultur zu rekonstruieren oder nachzuempfinden. Laut Bredella ist es zusätzlich notwendig, auch unsere Außenperspektive ins Spiel zu bringen (vgl. Bredella : 12). Die Innenperspektive ist erforderlich, weil so Vorurteile oder eventuell bestehender Ethnozentrismus überwunden werden kann. Die Außenperspektive wird benötigt, um sich nicht in der Innenperspektive zu verlieren oder aufzulösen. "Ein reflektiertes interkulturelles Verstehen vollzieht sich, indem man die Spannungen zwischen Innen- und Außenperspektive entfaltet." (Bredella : 12) Daraus leiten sich zwei Fragen ab: Wie werden wir gesehen und wie sehen wir uns oder andere? Es fällt uns leicht zu sagen, der sieht wie ein Deutscher oder wie ein Türke aus. Diese Aussagen sind alltäglich und dienen der Verständigung mit dem jeweiligen Gesprächspartner. Dabei ist nicht zu vergessen, dass ein gemeinsames Verständnis (z.B. Stereotyp) über eine Gruppe (z.B. Nation) Voraussetzung für die Kommunikationsbasis ist.
Die Zuschreibung wie deutsch, türkisch, italienisch oder polnisch usw. erschienen bei der Darstellung von Personen und Mitteln, um ein relativ eindeutiges Verständnis über bestimmte Eigenschaften eben dieser anderen und fremden Personen[-gruppen] herzustellen. (Krüger : 55)
So wirbt auch das Magazin Spiegel mit der aktuellen Sonderausgabe Die Deutschen mit dem verlockendem Slogan "Und wie wir wirklich sind" um Leser . Es scheint ein allgemeines Bedürfnis zu bestehen, sich und andere in übergeordneten (kulturellen) Merkmalen wiederzuerkennen. Daher ist es unerlässlich, auf die Stereotypen des Textes einzugehen und diese mittels produktions- und handlungsorientierter Verfahren den SchülerInnen zugänglich zu machen.
Das Verfahren der Figurenbefragung eignet sich in besonderer Weise für die Bearbeitung dieses Textauszugs und zur Reflektion von Innen- und Außenperspektive. Die Figurenbefragung ist eine weitere handlungsorientierte Methode im Umgang mit fiktionalen Texten. Sie soll hier wiederum das analytische Vorgehen ergänzen, indem sie eine besondere Begegnung der SchülerInnen mit dem Text ermöglicht. Die Verlebendigung der Figur vollzieht sich durch das individuelle Fühlen und Denken der interpretierenden SchülerInnen. Eine hohe innere Beteiligung der SchülerInnen wird dadurch gefördert. Ein weiterer Vorteil dieser Methode ist, dass der Lehrer und sein Textverständnis zugunsten der Schülersicht in den Hintergrund treten. Die Figurenbefragung ist eine induktive und kreative Herangehensweise, die auf der Vorstellungskraft der SchülerInnen beruht und ihrer Fähigkeit, sich in Charaktere (oder Personen) hineinzuversetzen. Grundlage für das Funktionieren dieses Verfahrens sind das Interesse der SchülerInnen an Hintergründen von Denkweisen, das Interesse an der Reflektion der eigenen Denkweisen und die Fähigkeit zur Empathie, ohne die es keine Rollenübernahme geben kann. Darüber hinaus brauchen die SchülerInnen die Fähigkeit, die eigene Perspektive zu verändern, die Fähigkeit zur Rollendistanz und die Fähigkeit, einen eigenen Standpunkt gegenüber der Rolle zu entwickeln und zu behaupten. Der Einsatz dieser Fähigkeiten kann als Grundlage dienen, diese weiter zu schulen und zu fördern. Diese Fähigkeiten zur Verwendung des Verfahrens decken sich mit Komponenten für die Entwicklung interkultureller Kompetenz.
Die Rollenauswahl ist aufgrund der Beschaffenheit des Textauszugs beschränkt. Der Abschnitt ist aus der Ich-Perspektive geschildert und richtet sich an einen impliziten Leser. Daher ist es nahe liegend, die Fragen an den taxifahrenden Erzähler zu richten und ihn antworten zu lassen. Zur praktischen Vorgehensweise schlage ich folgenden Ablauf vor: Ein erster analytischer Zugang zum Text schafft eine Materialgrundlage für die Rollenbefragung. Die Schüler erfassen die Aussagen des Erzählers über kulturnationale Stereotype und Vorurteile. Sie müssen dabei bereits trennen zwischen der individuellen Überzeugung des Erzählers und dessen Aussagen über kulturgruppenspezifische Einstellungen. (So behauptet der Erzähler zum Beispiel, dass die Deutschen von anderen als autoritätsgläubig angesehen werden. Er behauptet jedoch das Gegenteil über die Deutschen, etc.).
Nach der vorbereitenden Phase können die SchülerInnen eine Anzahl von Fragen überlegen, die mit der Vorstellung des Erzählers über Deutsche oder Deutschland zutun hat. Im Anschluss daran entscheiden die SchülerInnen sich für das Setting der Befragung und das Personal. Es ist aufgrund des Textauszuges naheliegend, das Setting in einem Taxi zu verorten. Andere Vorschläge der SchülerInnen verändern jedoch nichts an dem intendierten Lernprozess und sollten aufgegriffen werden. Die Interviewer können demnach verschiedene Fahrgäste des Ich-Erzählers sein. Es gilt weiterhin zu überlegen, wer die fragenstellenden Fahrgäste sind. An dieser Stelle bietet sich eine Differenzierung an, um durch die kulturelle Vielfalt der Klasse zu unterschiedlichen Ergebnissen zu kommen. Die Fahrgäste können als Deutsche dem Taxifahrer Fragen zu seiner Erfahrung mit Deutschen, seinem Deutschlandbild und seinen Stereotypen stellen, oder sie nehmen eine andere Rolle ein. So erhalten die SchülerInnen entweder eine Response zu der Innenperspektive auf ihre Kultur oder zu einer Außenperspektive auf eine ihnen vertraute Kultur. Die Befragung oder das Gespräch wird anders verlaufen, wenn der Fragende kein Deutscher ist. Deshalb sollten die SchülerInnen überlegen, welche Person die Fragen an den Taxifahrer stellt. Dann folgt die eigentliche Figurenbefragung. Jeder Schüler / jede Schülerin sollte die Möglichkeit haben, die ausgewählten Fragen aus der definierten (kulturellen oder nationalen) Position heraus zu stellen. Der Taxifahrer kann von wechselnden SchülerInnen gespielt werden. Das Ergebnis wird eine Vielzahl von Fragen und Antworten sein, die es zu reflektieren gilt. (Mögliche Reflexionsfragen sind: Ist die gegebene Antwort sinnvoll mit den Eindrücken aus dem Originaltext verknüpft? Wie fühle ich mich, wenn ich von dem Taxifahrer über meine Kultur Auskunft erhalte, wie fühle ich mich, wenn ich von dem Taxifahrer über eine mir vertraute Kultur Auskunft erhalte?) Wichtig für die Durchführung ist, dass dem Taxifahrer Fragen gestellt werden, die der entsprechende Schüler beantwortet, aber keine Diskussion, Nachfrage oder ein Infragestellen initiiert werden. Die Antwort soll nur entgegengenommen werden, damit eine eventuelle affektive Wirkung (Ablehnung, Freude, etc) Raum für Wahrnehmung durch die SchülerInnen erhält. Auf diese Weise kommen die Spannungen zwischen Außen- und Innenperspektive zur Geltung.
Die Differenzierung wird die Unterschiede der Außen- und Innenperspektive deutlich machen. Die eigene oder bekannte Kultur soll durch die konstruierte Außenperspektive des Ich-Erzählers (in Darstellung durch die SchülerInnen) aus einer anderen Sichtweise betrachtet werden. Die Eigen- und Fremdwahrnehmung wird im Spiel der Figurenbefragung reflektiert und hinterfragt. Durch die unmittelbare Konfrontation in dem simulierten Setting, werden die SchülerInnen nicht nur analytisch handeln und reagieren, sondern auch emotional-affektiv. Auf diese Weise wird ein Lernarrangement konzipiert, dass ein reflektiertes interkulturelles Verstehen (auf kognitiver und emotional-affektiver Seite) bietet, wie von Bredella gefordert (vgl. Bredella : 12)
Es muss noch angemerkt werden, dass eine spontane und spielerische Annäherung an die Thematik Stereotypen ein hohes Maß an Selbstreflektion und Sozialkompetenz erfordert. Ohne ein ausreichendes Maß besteht die Gefahr, dass es zu Widerstand und Abneigung kommt, die einem Lernprozess im Wege stehen. So ist es möglich, dass SchülerInnen in der Position des Taxifahrers Einstellungen äußern, die diskriminierend sind. Die Konfrontation mit der Außenperspektive auf die eigene oder vertraute Kultur darf nicht unreflektiert geschehen. Jedoch ist bei SchülerInnen dieser Bildungsgänge davon auszugehen, dass sie in ausreichendem Maße über diese Kompetenzen verfügen oder bereit sind, diese zu schulen.