furthermore...     Interkulturelles Lernen
     
 
  5.2 Eine Fortsetzung oder einen eigenen Schluss schreiben und spielen am Beispiel von Bernhard Schlinks Die Beschneidung
  Der Text Die Beschneidung von Schlink bietet sich sehr gut für das Schreiben oder Spielen eines eigenen Schlusses an. Auf diese Weise können SchülerInnen eigene produktive und handelnde Erfahrungen machen und ihre Imagination einsetzen (vgl. Waldmann : 35). Die Imagination dient der Antizipation verschiedener persönlicher oder kultureller Perspektiven.
Der Text beschreibt, wie sich aus einer Lappalie ein ernstzunehmender Streit zwischen Andi und Sarah entwickelt. Zunächst geht es nur um Konflikte innerhalb der Partnerschaft, die sich dann in einem unlösbaren Disput zwischen zwei Kulturen entladen. Die Lösung des Konfliktes bleibt im Text aus. Die Leerstelle bietet einen sehr guten Anknüpfungspunkt für produktions- und handlungsorientierte Verfahren. Die Erzählung zeigt in besonderer Weise auf, dass interkulturelle Konflikte nicht zwischen Kulturen stattfinden, sondern zwischen Individuen.
Die SchülerInnen müssen sich zunächst sehr genau mit dem Originaltext auseinandersetzen, damit sie eine Fortsetzung schreiben können, die logisch anknüpft. Eine genaue Untersuchung der Kommunikation zwischen Andi und Sarah ist wichtig. Die vorbereitende Auseinandersetzung mit dem Textauszug beschäftigt sich mit folgenden Fragen: Mit welchen Argumenten versuchen die Charaktere ihre Haltung zu unterstützen? Wie werden die Argumente vorgetragen? Wie sachlich oder emotional sind die einzelnen Argumente? Gehen die Gesprächspartner aufeinander ein, wo beziehen sie sich auf den anderen, wo reden sie aneinander vorbei? Darüber hinaus kann sich die Notwendigkeit ergeben, die geschichtlichen Hintergründe zu klären sowie den Begriff Vorurteil. Ohne die genaue Analyse kann der Text nicht kohärent fortgesetzt werden. Verweisend auf Waldmanns Phasenmodell möchte ich insbesondere bei diesem Text vorschlagen, dass Besprechung und Erarbeitung in einem Wechsel von analytischen und produktiven Verfahren erfolgen ( vgl. Waldmann : 85).
Der erste Zugang zum Text besteht aus einem aktiven Leseprozess. Die SchülerInnen kommentieren den Text während des Lesevorganges abschnittweise. Sie schreiben Bemerkungen an den Rand. Zu den Bemerkungen gehören Fragen, Einwände, Denkblasen mit Hinweisen zu ähnlichen Erfahrungen, Sprechblasen zur eigenen Haltung, graphische Zuordnung der Redeanteile und Argumentationen der Charaktere (z.B. durch unterschiedliche Farben kenntlich zu machen). In diesem ersten Zugang zum Text soll also bereits fokussiert werden, welche Charaktere Aussagen treffen und auf welche Weise sie es tun. Gleichzeitig sollen die Denk- und Sprechblasen eine Verknüpfung zur eigenen Erfahrung oder Haltung herstellen. Für die Untersuchung des Textauszuges ist es wichtig, den eigenen Standpunkt zu reflektieren, weil er einen großen Einfluss auf das Verstehen und Mitfühlen hat. Möglicherweise werden an dieser Stelle Unterschiede in der Erfahrung der SchülerInnen verschiedener kultureller Prägung sichtbar. So werden sich die Denk- und Sprechblasen der einzelnen Schüler unterscheiden und Einfluss nehmen auf die weitere Bearbeitung der literarischen Textvorlage. Weitere Schritte zur konkretisierenden Aneignung können im Plenum stattfinden .
Die Vorgehensweise zur weiteren Bearbeitung des Textes mittels produktions- und handlungsorientiertem Verfahren kann folgendermaßen gestaltet werden: Zunächst schreiben die SchülerInnen die vorhandene Originalvorlage in ein Drehbuch um. Das produktive Verfahren, einen erzählenden Textausschnitt in einen dramatischen Text umzuschreiben, hat das Ziel, möglichst viele Hinweise auf Gestik, Mimik, Position im Raum, Haltung etc. in den dramatischen Text einfließen zu lassen. Dabei können die SchülerInnen die Anteile wörtlicher Rede des Textes übernehmen und ergänzend Regieanweisungen hinzufügen. Hierfür orientieren sich die SchülerInnen zunächst noch stark am Text. Gestik und Körpersprache sind eine für interkulturelle Kontakt- und Lernsituationen wichtige Erweiterung der Wahrnehmungs- und Ausdruckfähigkeit (vgl. Johann / Michely / Springer : 12). Die SchülerInnen können in solchen Übungen lernen, ihre Wahrnehmung des Gegenübers bewusst um Gestik und Körpersprache zu erweitern. Sie können im Rollenspiel bzw. in der Formulierung der Sprech- und Spielaktionen reflektiert und geprobt werden. Die produktive Veränderung der Erzählung schreibt Waldmann der dritten Phase des Verstehensprozesses von literarischen Texten zu (vgl. Waldmann : 80). In diesem Fall dient sie dazu, dass die SchülerInnen die Kommunikation zwischen Sarah und Andi konkretisieren. Folgende Fragen liegen der Erarbeitung zugrunde: Was sagen die beiden, wie meinen sie es, was versteht der andere und warum versteht er es so? Auf diese Weise nähern die SchülerInnen sich dem Kern des Missverstehens und des Konflikts an.
Der weiterführende Teil der Aufgabe besteht im Spielen bzw. Schreiben der Fortsetzung der Szene. Hierfür möchte ich zwei Varianten vorstellen. Die erste besteht darin, das Drehbuch schriftlich fortzusetzen und dann das somit erweiterte Stück einem Publikum vorzuspielen. Die zweite Variante ersetzt den geschriebenen Teil der Fortsetzung durch ein interaktives Spielen. Ziel beider Varianten ist es, die multikulturelle Kommunikationssituation im Hinblick auf die Botschaften, auf das Verstehen und Deuten hin zu untersuchen und Hintergründe für Missverstehen aufzudecken. In der Fortsetzung können dann die Probleme und auch Chancen erfasst und erlebt werden, die multikulturelle (Konflikt-) Situationen bergen. Haas beschreibt dieses Verfahren folgendermaßen:
Am leichtesten vollzieht sich das produktiv-kreative Eintreten des Lesers in den Text, sein Sich-des-Textes-Bemächtigen (damit ihn der Text nicht seinerseits überwältige und stumm mache!), wenn Personen der Handlung zum Sprachrohr des Verstehens, bzw. Nichtverstehens oder des Veränderungswillens des Lesers gemacht werden. (Haas : 173)
Die SchülerInnen können im Falle dieser Erzählung sich der Standpunkte und Perspektiven der Charaktere bemächtigen, ihre Hintergründe mit eigenen kulturellen und nationalen Erfahrungen durchleuchten und die Bruchstellen erkennen, die kulturelle Konstrukte bei Individuen hinterlassen. Das Nichtverstehen der Charaktere kann von den SchülerInnen nachvollzogen werden.
Nach der ersten Aneignung des Textes durch Umschreiben folgt die eigene produktive Auseinandersetzung. Die erste Variante dieser Auseinandersetzung lässt sich folgendermaßen durchführen. Die SchülerInnen erarbeiten in Gruppen eine Fortsetzung des Stücks. Hierfür setzen sie sich in ihren Gruppen darüber auseinander, wie der Konflikt fortgeführt wird. Die SchülerInnen diskutieren, ob der Konflikt zu lösen ist, ob er gegebenenfalls sachlich oder emotional gelöst wird, ob es einen Gewinner, einen Verlierer oder einen gleichberechtigten Kompromiss gibt. Die Gruppen werden aller Wahrscheinlichkeit nach zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, die dann wiederum miteinander verglichen werden können. Der Vorteil des Umschreibens in ein Drehbuch besteht darin, dass sich die Drehbuchautoren, bzw. RegisseurInnen, abstimmen müssen, mit welcher Stimmung und mit welchem Ausdruck (laut, leise, aggressiv, flehentlich usw.) die Charaktere sprechen und spielen. In Erzähltexten werden diese Details nicht unbedingt gefüllt. Durch das Vorspielen der verschiedenen Drehbücher erkennt das Publikum, dass ein Konflikt unterschiedlich verlaufen kann, abhängig davon, wie die Charaktere aufeinander eingehen oder auf ihren Standpunkten beharren. Möglicherweise wird durch das Ausleben der Charaktere auch der eigene Standpunkt reflektiert. Die SchülerInnen fragen sich, wie sie in dieser Situation gehandelt hätten. Ein Schüler, der eigene Erfahrungen mit Vorurteilen gegenüber Deutschen gemacht hat, wird eine andere Fortsetzung präferieren und spielen, als ein Schüler, der selber Vorbehalte gegenüber bestimmten Kulturen hat. Jemand, der eher bei Konflikten nachgeben kann, wird möglicherweise eine friedliche Lösung bevorzugen, im Gegensatz zu den Schülern / Schülerinnen, die wenig kompromissbereit sind. Somit schließt die Umarbeitung und Fortsetzung des Stückes auch die Reflexion des eigenen Standpunktes mit ein.
Die zweite Variante setzt eine ähnliche Vorarbeit voraus. Die SchülerInnen schreiben den Erzähltext in einen dramatischen Text um. Bei dieser Variante ist es von Vorteil, wenn sich die Klasse auf eine gemeinsame Drehbuchgrundlage einigen kann, da nur ein Ausgangstext benötigt wird. Zwei SchülerInnen spielen dann den gemeinsam verfassten Text soweit der Originalausschnitt Vorgaben macht. Anschließend improvisieren sie die Szene ohne Textvorlage weiter. Das Publikum darf eingreifen, das Spiel einfrieren, um Regieanweisungen zu geben, welche dann von den Akteuren umgesetzt werden. Das Publikum hat jederzeit die Option, verändernd einzugreifen. Jeder Schüler / jede Schülerin im Publikum erhält den Auftrag, die Charaktere durch Regieanweisungen zu einer (für sie) authentischen Lösung des Konflikts zu führen. Die konkrete Füllung des Begriffs Lösung können die SchülerInnen individuell klären. (Lösung kann bedeuten, dass der Konflikt gelöst wird, einer der Charaktere geht, etc.). Es wird durch die unterschiedlichen subjektiven Standpunkte kein übereinstimmendes Ergebnis des Konfliktes geben. Zudem muss die improvisierte Fortsetzung mehrmals wiederholt werden. Hierzu ist es sinnvoll, die verschiedenen improvisierten Fortsetzungen zu filmen. So steht das Material zu einer anschließenden Reflexion bereit. Ziel ist, zu erkennen, dass es keine Generallösung für diese konkrete Situation gibt und auch nicht für andere vergleichbare Situationen. Um auf die literarische Vorlage zu verweisen, sollten die SchülerInnen sich der Frage stellen, warum Schlink die Erzählung ohne Auflösung enden ließ.
Wenn die SchülerInnen nach Ausbildungsende als ErzieherInnen einen auf interkulturellen Schwierigkeiten beruhenden Konflikt lösen müssen, so können sie nicht einen Katalog von Maßnahmen aus der Ausbildung mitnehmen, den sie auf die verschiedenen Fälle anwenden, sondern sie müssen vielmehr ihre Kompetenzen erweitern, um angemessen agieren zu können. Dazu gehört auch die Einsicht, dass nicht jeder Konflikt gelöst werden kann. Ein Ziel beider Varianten soll es sein, dass die Schwierigkeit einer Konfliktlösung bewusst wird. Die SchülerInnen sollen nachvollziehen, dass der Ausgang eines Konflikts von vielen kulturellen und individuellen Faktoren abhängt. Die Literatur soll keine Lösung anbieten, sondern ein verfeinertes Problembewusstsein schaffen. Erreicht wird dies durch Nachspielen und damit verbundenem Nachvollziehen verschiedener Standpunkte.