furthermore...     Interkulturelles Lernen
     
 
 5.1 Ein Standbild bauen am Beispiel von Özdamars Text Entschuldigung
  Verschiedene Szenen aus Özdamars Text Entschuldigung bieten sich sehr gut für das Verfahren des Standbildes an. Der Text behandelt eindringlich die unterschiedlichen Machtpositionen und Haltungen der neu eingewanderten Türken gegenüber den neuen Arbeitgebern und zeigt die sich verändernde Position der Protagonistin. Exemplarisch möchte ich zwei Ausschnitte als Standbild beschreiben.
Ein Standbild zu bauen bedeutet, dass ein Ausschnitt aus der Erzählung wie eine Fotografie der Szene erstellt wird. Sowohl die innere Haltung, als auch die äußere Haltung der Figuren werden dargestellt. Die Modelle der Figuren sind die SchülerInnen. Sie positionieren stumm und unbewegt, um eine Momentaufnahme darzustellen. Anders als bei dem Spielen einer Szene wird nur ein typischer Augenblick dargestellt, der das Wesentliche beinhalten soll. Für die Positionierung gibt es mehrere Möglichkeiten. Entweder agiert ein Schüler / eine Schülerin als RegisseurIn und gestaltet die Positionierung, Haltung, Gestik und Mimik der Modelle nach eigener Vorstellung. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass eine Gruppe von SchülerInnen die Gestaltung gemeinsam vornimmt. Vorteil der Gruppengestaltung ist, dass eine Absprache vorgenommen werden muss. Die SchülerInnen müssen so im Gestaltungsprozess bereits begründete Entscheidungen treffen und formulieren. Eine Alternative zur Gestaltung von Außen bietet eine dritte Möglichkeit. Die Modelle selbst stellen sich als die entsprechenden Figuren nacheinander in den Raum mit entsprechender Gestaltung und fügen sich in das Gesamtbild ein. Bei dieser Variante entfallen die Auseinandersetzung und das Vortragen von Entscheidungen, wie es bei der Gruppengestaltung nötig ist. Vorteil dieser Möglichkeit ist, dass die SchülerInnen eine stumme Auseinandersetzung proben. Sie lernen, auf Gestik und Mimik der anderen zu achten und müssen spontan reagieren. Ein mögliches Resultat ist, dass durch die fehlende Lenkung von Außen die Stimmigkeit des Gesamtbildes verloren geht. Es gilt, mehr in der nachfolgenden Reflexion zu erörtern.
Die Modelle können insbesondere bei den Varianten eins und zwei befragt werden, welche Empfindungen sie hatten, als sie zu einer bestimmten Position im Raum, Körperhaltung, Mimik und Gestik aufgefordert wurden. Wie fühlen sie sich, wenn sie in eine dominante oder untergeordnete Haltung verwiesen werden? Wie fühlen sie sich, wenn sie Kontakt zu anderen Figuren haben oder von ihnen abgeschnitten sind? Das Nachempfinden bietet einen stark emotionalen Zugang zu den Figuren des Textes. Das anschließende Befragen der Modelle kann die darstellenden Figuren auch entlasten. Wenn sie eine Rolle einnehmen, die konträr zu der eigenen Einschätzung ihrer Person ist, welche möglicherweise auch befremdlich ist, so brauchen die Modelle die Möglichkeit der Distanzierung und Entlastung im Anschluss an das Standbild. Wenn ein emotionales Empfinden in den Erkenntnisprozess eingebunden wird, bedarf es eines sensiblen Umgangs mit den SchülerInnen. Die Regisseure nehmen dabei einen analytischen Blick ein, da sie ihre Entscheidungen offen legen müssen und diese eventuell durch Hinweise und Referenzen auf den Text belegen können müssen. Wichtig für das Verfahren Standbild ist, dass der Text Maßstab für die Beurteilung der Momentaufnahme bleibt. Eine Überprüfung am Text kann dergestalt erfolgen, dass zunächst charakterisierende Merkmale schriftlich festgehalten und im Anschluss mit dem Standbild abgeglichen werden.
Das erste Standbild bietet sich zur Beschreibung der Einführung neuer Gastarbeiter in der Fabrik an:
"Während ich übersetzte, stand der Meister rechts, und die Ehepaare standen links von mir. Wenn ich Deutsch sprach, fing ich meine Sätze wieder mit ‚Entschuldigen Sie bitte' an. Nach rechts sagte ich zum Meister: ‚Entschuldigen Sie mich bitte…' Wenn ich nach links ins Türkische übersetzte, fehlte das Wort ‚Entschuldigung'." (Özdamar : 84)
Die SchülerInnen müssen überlegen, wie sie einen durch Worte gekennzeichneten Dialog stumm und unbewegt darstellen können. Sie müssen nachvollziehen, welche Erwartungshaltung mit dem Wort ‚Entschuldigung' einhergeht und ein Gefühl für Machtverhältnisse in der Sprache entwickeln. Aus der Erwartungshaltung leiten sie dann eine Körperhaltung ab. Beteiligte Figuren sind eine Anzahl von Gastarbeitern, die Protagonistin und der Meister. Eine besondere Schwierigkeit der Szene besteht darin, dass sie zwei Aktionen umfasst. Zum Einem spricht die Protagonistin mit dem Meister und bedient sich dabei eines entsprechenden Sprachregister, auf der anderen Seite spricht sie mit ihren Landsleuten. Die SchülerInnen müssen entscheiden, wie zwei unterschiedliche Register durch nur eine Haltung der Figur ausgedrückt werden kann. Die Szene ist trotz ihrer Kürze also recht komplex in der Darstellung als Standbild. Der Zwiespalt im Verhalten der Protagonistin zu diesem Zeitpunkt in der Erzählung wird durch das Standbild deutlich und die Modelle können beschreiben, wie sie sich in der ihnen zugewiesenen (Macht-)Position fühlen. Da mehrere Personen im Standbild dargestellt werden, bietet sich die vorgestellte alternative Möglichkeit an, bei der es keines Regisseurs bedarf.
Eine Alternative dieser Textstelle zur Darstellung im Standbild ist folgender Abschnitt:
"Wenn ich beim Arzt übersetzte und ein Blatt aus den Händen des Arztes herunterfiel, sagte ich ‚Ach, entschuldigen Sie bitte.' - ‚Bitte, bitte', sagte der Arzt. Er bückte sich dann herunter, um das Blatt aufzuheben, auch ich bückte mich, und mein Kopf stieß mit seinem Kopf zusammen. Ich sagte wieder: ‚Ach, entschuldigen Sie bitte."' (Özdamar : 84)
Die Textstelle ist leichter darzustellen, weil bereits mehr Aktion beschrieben wird. Lediglich die Aussage "Ach, entschuldigen Sie bitte" muss in einen Ausdruck übertragen werden. An dieser Stelle müssen sich die SchülerInnen entscheiden, ob die Protagonistin bereits eine gleichwertige Position zum Arzt einnimmt oder eine untergeordnete Rolle. Beide Möglichkeiten lässt der Text an dieser Stelle zu. Eventuell bedarf es einer Abstimmung innerhalb einer Regisseurgruppe.
Warum kann das Standbild zu einem vertieften Verständnis der Erzählung führen und so den Weg zu interkulturellem Lernen positiv beeinflussen? Die analytische Vorgehensweise wird die SchülerInnen zu einer Erkenntnis bringen, warum der Satz ‚Entschuldigen Sie' als Erstes gelernt wurde und was er über die Erwartungshaltungen der Deutschen gegenüber Fremden aussagt. Die SchülerInnen können ebenfalls über die Textanalyse erfahren, warum die Protagonistin sich am Ende des Ausschnittes nicht mehr entschuldigt. Das Standbild kann jedoch darüber hinaus eine Visualisierung bewirken, so dass die unterschiedlichen Positionen körperlich nachvollziehbar werden. Der Zwiespalt der Protagonistin in der ersten Darstellung wird deutlich und die SchülerInnen können buchstäblich die Zerrissenheit zwischen der alten Tradition, dem neuen Leben und der neuen Rollen in Deutschland begreifen. Die Modelle können zusätzlich eine emotionale Erfahrung machen, wie es sich anfühlt, körperlich und mimisch-gestisch darstellend eine bestimmte Position einzunehmen. Das Standbild schafft demnach die Voraussetzung, kognitives und emotional-affektives Lernen zu verbinden. Bei dieser Form der handlungsorientierten Interpretation ist die Gestaltung eines Standbildes kein bloßer spielerischer Umgang mit dem Text, sondern eine Fortführung der Analyse und steht demnach am Ende der Bearbeitung.
Nachteil der Standbildmethode in diesem Fall ist, dass die sprachliche Vielfalt der Klasse nicht in das Verfahren eingebunden werden kann, da Sprache nicht als Gestaltungsmittel zugelassen ist. Ein Verfahren, welches zum Beispiel die türkische Sprache mit einbindet (in meiner Klasse gab es zwei Türkinnen), kann die Multikulturalität und Mehrsprachigkeit als Ressource für Erfahrungen nutzen. So wäre zu überlegen, ob unter einer anderen Schwerpunktbildung diese Chance eingebunden werden kann. In diesem Fall war jedoch mein Akzent auf das körperliche und emotionale Nachempfinden in einem Standbild gelegt.