furthermore...     Interkulturelles Lernen
     
 
 3.1 Entschuldigung von Emine Sevgi Özdamar
  Der besprochene Auszug stammt aus dem Roman Die Brücke vom goldenen Horn. Die Autorin hat aus der Perspektive eines siebzehnjährigen türkischen Mädchens die Anfangsjahre in Deutschland beschrieben. Das Mädchen findet sich in einer fremden Kultur wieder, deren Sprache sie erst noch lernen muss. Der Ausschnitt beschreibt, wie sie in der neuen Lebenswelt zunächst nur das Wort "Entschuldigung" lernt und in jeder Situation anwendet. Schließlich lernt sie mehr Deutsch und kann für ihre Landsleute dolmetschen . In der Übersetzung verwendet sie das Wort "Entschuldigung" sobald sie deutsch spricht. Nach einiger Zeit hört sie jedoch auf, sich zu entschuldigen.
Der Text zeigt Erfahrungen von Gastarbeitern aus der Türkei in Deutschland und schildert die individuelle Geschichte der jungen Protagonistin. Dieser Textauszug wurde unter dem Aspekt Sprache und Macht analysiert. Sprache als Bestandteil von Kultur und Teil multikultureller Konflikte wurde in der Einführung von meinen Schülern explizit erwähnt. Die SchülerInnen untersuchten die Fragestellung, warum der Satz "Entschuldigen Sie" als erstes gelernt wurde, was dies über das Verhältnis und die Erwartungen von Deutschen und Türken im Kontext von Migrationserfahrungen aussagt und weshalb die Protagonistin sich schließlich nicht mehr entschuldigt. Die SchülerInnen untersuchten den Text sehr motiviert. Insbesondere die beiden türkischen Schülerinnen zeigten außerordentlichen Einsatz. So erkundeten sie sich bei ihren Eltern, bzw. Großeltern nach deren Erfahrungen der Migration, ihrem Verhältnis zur deutschen Sprache u.v.m. .
Ich habe diesen Textauszug aus verschiedenen Gründen gewählt. Zum Einem war es mir wichtig, in dieser Unterrichtsreihe Literatur zu wählen, die Leben in einer Migrationsgesellschaft thematisiert. Unsere Gesellschaft ist gekennzeichnet durch Begegnungen mit einer Vielfalt von Lebensformen und deren sprachlicher Ausgestaltung ( vgl. Bogdal / Korte : 79). Im konkreten Fall waren zwei Schülerinnen meines Unterrichts türkischer Herkunft, so dass ein besonderes Identifikationsangebot für sie bereitstand. Der zweite Grund für die Auswahl dieses Textauszuges war der Umstand, dass er das Verhältnis von Sprache und Macht zum Gegenstand hat, das in interkulturellen (Konflikt-)Situationen häufig zum Tragen kommt. So ist es auch heute noch der Fall, dass aufgrund sprachlicher Bedingungen eine Integration von Migrantenfamilien häufig fehlschlägt. Mühler / Schmidt / Stamer-Brandt stellen fest, dass wegen der sprachlichen Situation folgendes Resultat (in der pädagogischen Praxis) auftritt: "(Es gibt) verminderte Chancen für Migrantenkinder, die zwischen zwei Kulturen aufwachsen und häufig sowohl mit der Muttersprache als auch mit der Zweitsprache große Schwierigkeiten haben." (Mühler / Schmidt / Stamer-Brandt : 14) So erwähnten meine SchülerInnen eigene Erfahrungen in der Berufspraxis mit Schwierigkeiten bei Interaktionen mit Kindern und in der Elternarbeit aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse. Es ist in der pädagogischen Praxis bekannt, dass Eltern mit geringen Deutschkenntnissen zu wenig Kontakt- und Beratungsangebote wahrnehmen (vgl. Mühler / Schmidt / Stamer-Brandt : 14). Die Kinder haben dadurch Nachteile in ihrer individuellen Förderung. Es ist kein Problem der pragmatischen Verständigung - die auch mit geringen Sprachkenntnissen möglich ist -, sondern ein Problem, welches auf die angenommene Wertschätzung abzielt. Häufig gehen Eltern, welche die deutsche Sprache nicht gut beherrschen davon aus, nicht ernst genommen zu werden. Der Text bietet den SchülerInnen die Möglichkeit zu verstehen, dass Sprache Ausdruck von Machstrukturen ist, die es zu bemerken gilt. Wenn sie in ihrer Praxis mit Eltern zusammenkommen, die Deutsch nicht ausreichend beherrschen, so müssen sie sich der damit verbundenen (Macht-)Haltungen bewusst sein. Das Thema des Textes ist also bedeutend für die berufliche Handlungskompetenz.