furthermore...     Interkulturelles Lernen
     
 
 2. Chancen des Deutschunterrichts und Kriterien der Textauswahl zur Förderung interkultureller Kompetenz
  Die KMK weist in ihrem Bericht Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule darauf hin, dass interkulturelles Lernen zwar integrativ in allen Bereichen der Schule möglich und nötig sei, jedoch auch die Fächer einen speziellen Beitrag leisten können (vgl. KMK : 4). Für den Deutschunterricht wird die Textarbeit vorgeschlagen, die einen Perspektivwechsel anregen soll. Das Fach Deutsch soll die SchülerInnen befähigen, individuelle und fremde Wirklichkeitserfahrungen in (eigenen) Texten zu verarbeiten, sowie Texte und ihre Gestaltungsmittel zu verstehen. Der Deutschunterricht hat die Aufgabe zu einer umfassenden Handlungsfähigkeit der SchülerInnen beizutragen, zu der auch interkulturelle Kompetenz im Sinne von Sozial- und Humankompetenz sowie Fachkompetenz zählt. Die SchülerInnen sollen im Deutschunterricht unter anderem historisch-gesellschaftliche und sprachlich-literarisch-künsterlische und ethisch-normative Dimensionen ihres gegenwärtigen und zukünftigen Handelns erkennen (Entwurf. Lehrplan Deutsch. Kollegschule : 1). Der Deutschunterricht trägt mit dazu bei, dass die SchülerInnen über kulturelle, politische und wirtschaftliche Zusammenhänge reflektieren lernen. Daher bietet sich das Fach Deutsch auch für die Reflektion über interkulturelle Zusammenhänge an.
Der Entwurf der Richtlinien und Lehrpläne für die Bildungsgänge der Kollegschule, die zur allgemeinen Hochschulreife und zu einem Berufsabschluss mit staatlicher Berufsabschlussprüfung führen, sehen in einem vorläufigen Arbeitspapier (Entwurf. Lehrplan Deutsch. Kollegschule) vor, dass der Deutschunterricht sich auch mit der Frage beschäftigt, was kulturelle Identität ist, wodurch sie gefährdet sein kann und wie sie im Verhältnis zu anderen Kulturen steht . Damit verbunden ist die Reflexion über positive und negative interkulturelle Erfahrungen. Weiter verweist das vorläufige Arbeitspapier darauf, dass eine Antwort nur von den Jugendlichen selbst gesucht werden kann. Der Deutschunterricht soll hierfür Impulse geben, die zu einer kulturellen Selbstdefinition führen können. Zusätzlich soll die eigene kulturelle Tradition bewertet und sinnvoll weiterentwickelt werden. Als mögliches Thema wird vorgeschlagen, die Frage der Nationalität und Kultur, des Umgangs mit Ausländern und deren Kulturen aufzugreifen. Der Bezugspunkt ist wiederum die eigene kulturelle Erfahrung der Jugendlichen. Grundlagen können hierfür literarische Verarbeitungen kultureller Identität und/oder ihre Unterdrückung sein. Für eine Reflexion über Sprache bietet sich die Untersuchung an, in wiefern Macht durch Sprache und sprachliche Mittel ausgedrückt wird (Entwurf. Lehrplan Deutsch. Kollegschule : 32).
Literarische Texte bieten sich für die Bildungsgänge E FHR und E AHR in besonderer Weise an. Im Unterschied zur Fachschu le für ErzieherInnen erhalten in diesen Bildungsgängen die SchülerInnen eine Doppelqualifizierung. Sie erwerben berufliche und allgemeine Ausbildungsinhalte. Dabei bedient das Fach Deutsch beide Schwerpunkte und soll versuchen, sie zu vereinen. Aus diesem Grund kommt literarischen Texten eine größere Bedeutung in diesem Bildungsgang zu, als in der Fachschule für ErzieherInnen. Die im weiteren Verlauf exemplarisch besprochenen Texte sind von Autoren verfasst, die zum Teil bereits Aufnahme in den Schulkanon gefunden haben .
Literatur eignet sich in besonderer Weise für die Entschlüsselung und Übernahme verschiedener Perspektiven. Textarbeit per se beschäftigt sich schließlich mit Perspektiven. Daher ist es nahe liegend, Literatur einzusetzen, um einen Wechsel von Perspektiven zu üben. Der Leser nimmt im Leseprozess eine andere Sichtweise auf - die der Erzählperspektive - und muss diese mit seiner abgleichen. Literatur dient dazu, die Selbst- und Welterfahrung zu erweitern und zu vertiefen (vgl. Waldmann : 1). Darüber hinaus ist sie ein Vehikel der imaginativen und gedanklichen Welterkundung - und damit auch ein Werkzeug zur Erkundung von Kulturen (vgl. Haas : 34). Da Texte sich in einer bestimmten kulturellen, sozialen, ökonomischen und sprachlichen Wirklichkeit konstituieren, bietet die Literatur viele Ressourcen für interkulturelle Lernprozesse. Lange Zeit wurde der Deutschunterricht eingesetzt, um das Deutsche zu vermitteln und eine deutsche Kultur in Abgrenzung zu anderen Kulturen herauszustellen. Der Nationalgedanke und der damit verbundene Ethnozentrismus ist jedoch nicht mehr Ziel des Deutschunterrichts als Ergebnis des Entwicklungsprozesses seit der "Stunde Null" nach 1945 (vgl. Wintersteiner : 51).
Aus diesen Gründen stelle ich mir die Frage: Welche Texte bieten sich für den Deutschunterricht unter interkulturellen Fragestellungen an? Der Literaturunterricht, der sich mit dem Lebensraum der SchülerInnen befasst, sollte auch die Literatur beinhalten, die der Vielfalt der Kulturen entspricht, nicht nur die der deutschsprachigen Mehrheit ( vgl. Wintersteiner : 56). Das Methodenhandbuch für sozialpädagogische Berufe von Johann / Michely / Springer macht ebenfalls diesen Vorschlag (vgl. 206). Das Kennenlernen fremder Denkweisen mittels literarischer Texte aus anderen Kulturkreisen oder Literaturen in der Migration und über Migrationserfahrungen werden hierfür vorgeschlagen.
Bei der Textauswahl war es für mich wichtig, dass Inhalte, Orte und Personen den SchülerInnen nicht zu fremd waren. Texte, die nur in fremden Ländern spielen, fremde Kulturen und Sitten beschreiben, tragen die Gefahr in sich, exotisiert zu werden. Das Fremde muss der eigenen Lebenswelt so nahe stehen, dass es Annäherungen oder Reibungen zulässt. H. J. Roth erwähnt ausdrücklich in seiner Auffassung von den Grundlagen interkultureller Erziehung und Pädagogik, dass sie sich an Orten orientieren müssen, an denen Menschen primär ihre Erfahrungen machen, damit sie erfahrungsoffen bleiben können (vgl. Holzbrecher : 88).
Die nachfolgend exemplarisch besprochenen literarischen Texte versuchen, an die Lebenswelten der SchülerInnen anzuknüpfen. Özdamars türkische Protagonistin zieht, wie eine großer Teil dieser Generation junger TürkInnen nach Deutschland und erlaubt sich einen Blick auf unsere Kultur, genauso wie Zé do Rocks brasilianischer Taxifahrer. Schlinks Protagonist Andi macht als Deutscher im Ausland Erfahrungen mit der Außenperspektive auf Deutsche. Diese Texte sind eng genug mit unserer Lebens- und Kulturwelt verknüpft, um Fremdheitserfahrungen bei den SchülerInnen zu ermöglichen, die jenseits der Exotisierung stehen. Die Möglichkeit der Anknüpfung an die Lebenswelt der SchülerInnen steht daher mit im Mittelpunkt der Textauswahl, welche nachfolgend in Kapitel 3 beschrieben wird.